Die Stadtkirche wird zur Stadt
Gross waren sie nicht, die Umbauten für das Theater in der Stadtkirche Klingnau am Pfingstmontag: ein blaues Tuch vor dem Chorraum ausgespannt, der Raum um den Altar weitgehend leergeräumt. Die Kirchenfenster passten sich perfekt in das Bühnenbild ein, genau wie der Taufstein und der Altar, als wäre das Stück genau für diesen Raum inszeniert worden. Videobilder, auf das Tuch projiziert, liessen verschiedene Orte in einer Stadt entehen: am eindrücklichsten die Gefängniszelle, mit der Hauptfigur Susej darin; eingesperrt, weil sie im Verdacht stand, etwas mit den Unruhen in der Stadt zu tun zu haben. Diese Unruhen wurden vor allem akustisch eingespielt: Polizeisirenen und laute Rufe aus dem Kirchenschiff, dem Zuschauerraum, liessen die Menschen dort zu Menschen in der Stadt werden, in der das Stück spielt. So wurde der Titel zum Programm: «Sie kamen in die Stadt».
Geschrieben hat es Silja Walter, die Schriftstellerin und Nonne aus dem aargauischen Kloster Fahr. Inszeniert hat es das Zürcher Theaters 58, das immer wieder spirituelle Themen und Fragen auf die Bühne bringt. «Wir leben vorne. Aber es gibt das Dahinter» schreibt Silja Walter. Ihr Stück führt in die unruhige Stadt und durch sie hindurch in die «Nachtstadt in uns selbst». Die Fülle an Sprachbildern war nicht immer einfach zu verstehen. Wahrscheinlich entstanden auch mehr Fragen als Antworten. Aber es berührte. Sehr eindrücklich brachten die Schauspielerinnen und Schauspieler Widerstände gegen Veränderungen auf die Bühne, aber auch die tänzerische Lebensfreude, die der Traum von einer neuen Stadt auslöst. «Durch den Sumpf, durch das Feuer» führte das Stück. Und zum offenen Weg, der zum Fest führt. Ein Theaterabend in der Stadtkirche Klingnau, organisiert vom Pastoralraum Aare-Rhein, der die grösseren Umbauten nicht im Bühnenbild, sondern in den Zuschauenden bewirken will.
Schauspiel von Silja Walter
Regie: André Revelly
Mit Dagmar Loubier, Gabie Frotzler, Silvan Buess, Muheieddin el Burki, Joanna Grochowski, Alister Mariano Büchel
Video: Silvan Buess
Choreographie: Myriam Gurini
Technik: Michaela Theus
Eine Stadt – nehmen wir gerne Zürich – steht im Umbruch. Es gibt Unruhen und Tumulte auf den Strassen. Gleichzeitig soll in einer Kirche ein Stück aufgeführt werden, worin Susej die Hauptrolle spielt, eine Nonne. Sie zweifelt an sich und ihren Talenten und ist im Zwiespalt darüber, was sie von den Tumulten halten soll und ihrem Freund Hajo, den sie sehr mag, der aber auch ein bekennender Unruhestifter ist und aktiv mitmischt auf den Strassen.
Ungewollt landet sie dadurch im Gefängnis, weil die Polizei sie mit Hajo in Verbindung bringt und verhören will. Hier an diesem «dunklen Ort» beginnt ihre Reise in ihre eigene Seelenwelt mit ihrer schattenhaften Begleiterin Babeline, die stellvertretend steht für alles Dunkle im Menschen und sie in diese Schattenseiten des Menschen hineinziehen will.
So beginnt in Susej ein seelisches Tauziehen zwischen dem Auferstandenen Aleph eine Art Helferfigur des Lichtvollen im Menschen, der einen Neuaufbau der Stadt (der innerseelischen Landschaft) vorschlägt und initiieren will und der Schattengestalt der Babeline. Diese Einkehr in ihre Seelenwelt führt Susej durch ihre eigenen Schattenseiten und dadurch in ihre eigene Transformation. Hajo hat wenig Verständnis für diese Wandlung von Susej und sieht Aleph als Unheilsbringer. Er hält an seinen Plänen fest, die Stadt zu zerstören. Jedoch wird ihm diese Zerstörungswut zum Verhängnis und tötet das, was ihm am teuersten ist.
Es geht also wie in praktisch jedem Stück von Silja Walter um die Wandlung des Menschen durch seine eigene Dunkelheit ins Licht. Wut wird zu Mut und Liebe, Angst wandelt sich in Verständnis und ein Miteinander, eine Erschaffung einer neuen Stadt, eines neuen Zusammenlebens. Tod und Auferstehung. Eine Wiedergeburt aus der Asche der eigenen Vergangenheit. Jedoch muss dafür erst einmal Vergangenes «abgebrannt» werden, weshalb auch in diesem Prozess der «Läuterung» Silja Walter immer wieder das Feuer auflodern lässt.
Silja Walter
Wer die Werke der bekannten Schweizer Autorin Silja Walter (1919-2011) kennt, weiss, dass sie immer wieder mit starken Bildern arbeitet. Dabei kennt ihr Einfallsreichtum keine Grenzen, von lyrisch und zart bis fordernd und aufwühlend. Zeit und Raum heben sich auf. Und dann öffnet sich ein Bereich, in dem Silja Walter die Figuren zu Metaphern für Leben und Tod werden lässt. Sie zeigt Menschen, die in die Tiefe hinabsteigen, um das Licht auf neue Weise zu entdecken.
Das THEATER58 wurde am 26. Februar 1958 in Luzern gegründet. Es ist eines der ältesten freien Theater der Schweiz. Junge idealistische und theaterbegeisterte Schauspielerinnen und Schauspieler hatten sich zusammengefunden, um dem anonymen Stadttheaterbetrieb zu entrinnen und gemeinsam ein Theater zu gestalten, das sich den Fragen der Zeit stellt und sich der Spiritualität öffnet.
Nach einigen Jahren wurde das THEATER58 zum Tourneetheater mit Aufführungen in der Schweiz, teilweise auch in Deutschland und Österreich. Pro Spielzeit finden 60 – 80 Aufführungen zu Stadt und Land statt. In all den Jahren ist sich das THEATER58 treu geblieben. Nicht das Schielen nach raschen Erfolgen, modischen Trends, Events und Sensationen ist Ziel und Anliegen der Theaterarbeit, sondern das Eindringen in das Wesen des Menschen, in das Abenteuer und das Mysterium seiner Existenz.